Sachverhalt

Gegenstand des Rechtsstreits, mit dem sich der EuGH befasste, war der Fall eines in Polen für USt-Zwecke registrierten niederländischen Unternehmens, das als zwischengeschaltete Stelle an Reihengeschäften beteiligt war. Die Waren wurden direkt vom polnischen Verkäufer (erstes Subjekt) zu europäischen Geschäftspartnern (dritte Subjekte) geliefert. Das Unternehmen kaufte die Waren von dem polnischen Lieferanten und gab dabei seine polnische USt-IDNr. an. Diese Tätigkeiten wurden als inländische Lieferungen behandelt, die mit 23 % besteuert wurden und für die der polnische Lieferant die geschuldete Steuer an das Finanzamt abführte, während das niederländische Unternehmen die Vorsteuer auf inländische Erwerbe auswies. Daraufhin meldete das niederländische Unternehmen innergemeinschaftliche Lieferungen von Waren aus Polen an und wandte darauf den Steuersatz von 0 % an. Die Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Waren wurde in den jeweiligen Ländern von den Endabnehmern beglichen.

Standpunkt der polnischen Steuerbehörden

Die polnischen Steuerbehörden beanstandeten diese Art der Abrechnung und vertraten die Auffassung, dass die Unternehmen die bewegliche Transaktion falsch ausgewiesen hatten. Nach Ansicht der Behörden hätte die erste Transaktion in der Kette – d.h. die Lieferung zwischen dem polnischen Verkäufer und dem niederländischen Unternehmen (mit polnischer USt-IDNr.) – als bewegliche Lieferung deklariert werden müssen, so dass das niederländische Unternehmen als zweites Unternehmen in der Kette einen innergemeinschaftlichen anstelle eines inländischen Erwerbs hätte ausweisen müssen.

Die Steuerbehörden stellten das Recht des niederländischen Unternehmens auf Vorsteuerabzug für den Kauf vom polnischen Verkäufer in Frage und verhängten Sanktionen. Nach Ansicht der Behörden sollte das Unternehmen einen innergemeinschaftlichen Erwerb in dem Land abrechnen, in das die Waren geliefert wurden (die Abrechnung wäre neutral, erfordert aber eine Registrierung für USt-Zwecke in diesem Land). Darüber hinaus sollte das Unternehmen gemäß Artikel 25 Absatz 2 des polnischen Umsatzsteuergesetzes auch diesen innergemeinschaftlichen Erwerb in Polen ausweisen (da es seine polnische USt-IDNr. für die Zwecke der Transaktion angegeben hat), für den es die Umsatzsteuer zahlen sollte, ohne jedoch die Vorsteuer abziehen zu können.

Gleichzeitig war der polnische Lieferant (erstes Subjekt), der somit verpflichtet war, eine innergemeinschaftliche Lieferung abzurechnen, nach Ansicht der Behörden nicht berechtigt, den  USt-Satz von 0% anzuwenden (die Voraussetzung für die Anwendung des 0%-USt-Satzes ist, dass die Gegenpartei für die Zwecke des Geschäfts eine USt-IDNr. eines anderen Landes als Polen angibt). Der polnische Lieferant war also verpflichtet, das Geschäft zum Satz von 23 % abzurechnen.

Die Entscheidung der Behörden hatte zur Folge, dass die Lieferung mit 23 % doppelt besteuert wurde.

Zweifel des Obersten Verwaltungsgerichts

Das Unternehmen reichte zunächst eine Klage beim Wojewodschaftlichen Verwaltungsgericht in Warschau ein, das diese jedoch im Urteil vom 16. Mai 2017 als unbegründet abwies. Daraufhin reichte das Unternehmen eine Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht ein. Dieses entschied sich,  eine Vorlagefrage an den EuGH zu richten, denn das Oberste Verwaltungsgericht stimmte im Prinzip mit den Steuerbehörden überein, dass das Unternehmen die Lieferungen in der Kette falsch eingestuft hatte und folglich einer Sanktion nach Artikel 25 Absatz 2 des polnischen Umsatzsteuergesetzes unterlag, gleichzeitig hatte das Gericht jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit der polnischen Vorschriften mit den EU-Vorschriften über die Neutralität und die Verhältnismäßigkeit der Umsatzsteuer.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat den Standpunkt des Obersten Verwaltungsgerichts teilweise bestätigt. Er entschied nämlich, dass die falsche Klassifizierung von Transaktionen in einer Kette, die zu einer nicht ordnungsgemäßen Abrechnung einer beweglichen Lieferung führt, die Steuerbehörde zur Verhängung von Sanktionen berechtigt, wenn der Steuerpflichtige für innergemeinschaftlichen Erwerb eine USt-IDNr. aus einem anderen Land als dem Land angegeben hat, in das die Waren geliefert wurden.

Mit dem Artikel 41 der Richtlinie 2006/112/EG sollen die Steuerpflichtigen zur ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten veranlasst und das MwSt-System der EU geschützt werden. Dabei ist es unerheblich, dass der innergemeinschaftliche Erwerb von einem anderen Subjekt in dem Land, in das die Waren geliefert wurden, abgerechnet wurde. Damit bestätigte der EuGH, dass die polnischen Steuerbehörden auf der Grundlage von Artikel 25 Absatz 2 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes berechtigt waren, eine zusätzliche Sanktion gegen das niederländische Unternehmen zu verhängen.

EuGH-Urteil

Gleichzeitig teilte der EuGH den Standpunkt der Behörden nicht, die eine doppelte Sanktion für eine einzige Transaktion verhängen wollten. Wie der Gerichtshof betonte, führt ein solcher Ansatz zu einer zusätzlichen Besteuerung von  innergemeinschaftlichem Erwerb aus nicht steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferungen, was einen Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität und Verhältnismäßigkeit der Umsatzsteuer darstellt. Daher sollte in diesem besonderen Fall die Sanktion nach Art. 25 Abs. 2 nicht angewandt werden, da die sanktionierende Steuer bereits auf diese Lieferung erhoben wurde.

Im Schlussantrag des Generalanwalts wird folgende Erläuterung angegeben:

„Da die nationalen Behörden beschlossen, die innergemeinschaftliche Lieferung von BOP an B. nach der Neueinstufung als „nicht steuerbefreit“ zu behandeln, wurde dieser Umsatz tatsächlich in Polen besteuert.

Die wirksame Besteuerung im Ursprungsstaat der Gegenstände lässt zwar die Befugnisse des Bestimmungsmitgliedstaats unberührt, doch mit dieser Besteuerung entfällt meines Erachtens das Erfordernis, Art. 41 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzuwenden, da ja, wie vorstehend ausgeführt, die Besteuerung erfolgt ist und kein Grund mehr besteht, eine etwaige Steuerhinterziehung zu befürchten (…)

 Aus alledem folgt, dass Art. 41 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Anwendung von Art. 25 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen entgegenstehen, wenn dieser Erwerb auf einer innergemeinschaftlichen Lieferung beruhte, die, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, nicht als steuerbefreit behandelt wurde.“

Die Folgen des Urteils

Das Inkrafttreten der neuen Vorschriften für Reihengeschäfte ab dem 1. Juli 2020 hat die Buchführung vereinfacht und das Risiko solcher Buchungsfehler beseitigt. Das Urteil eröffnet jedoch Steuerpflichtigen, die in der Vergangenheit mit Sanktionen belegt und doppelt besteuert wurden, die Möglichkeit, Steuer- oder Gerichtsverfahren wieder aufzunehmen.

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