Sachverhalt

Der Rechtsstreit, mit dem sich der EuGH befasste, betraf die Entrichtung der Mehrwertsteuer durch die slowenische Bank Raiffeisen Leasing, trgovina in leasing d.o.o. (im Folgenden: „Raiffeisen“ oder „Bank“). Raiffeisen schloss 2007 mit einem Kunden einen „Sale-and-Leaseback-Vertrag“ ab, in dem sich die Bank verpflichtete, ein Grundstück zu einem bestimmten Preis zu erwerben; der Kunde verpflichtete sich, Raiffeisen monatliche Leasingraten zu zahlen, bis der Wert des Grundstücks und der zu errichtenden Gebäude vollständig bezahlt war. Raiffeisen stellte im Rahmen des Finanzierungsleasingvertrags keine Rechnung aus; trotzdem machte der Kunde sein Recht auf Vorsteuerabzug auf der Grundlage des Vertrags geltend und bestand darauf, dass dieser eine Rechnung darstelle.

Die Transaktion wurde später von den slowenischen Steuerbehörden geprüft und angefochten. Sie stellten fest, dass Raiffeisen die sich aus dem Finanzierungsleasingvertrag ergebende geschuldete Mehrwertsteuer nicht entrichtet habe. Die Bank war mit der Entscheidung der Finanzbehörde nicht einverstanden, so dass der Fall an den slowenischen Obersten Gerichtshof ging. Das slowenische Gericht war unsicher, ob ein Vertrag nur dann als Rechnung im Sinne von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden kann, wenn ihm objektiv der von den Parteien klar zum Ausdruck gebrachte Wille zu entnehmen ist, ihn einer Rechnung im Zusammenhang mit einem bestimmten Umsatz gleichzustellen. Deshalb fragte es den EuGH, ob ein schriftlicher Vertrag zwischen zwei Steuerpflichtigen als Rechnung für Mehrwertsteuerzwecke angesehen werden kann.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Im Urteil vom 29. September 2022 in der Rechtssache C‑235/21 gab der Europäische Gerichtshof grundsätzlich dem slowenischen Fiskus recht. Laut EuGH verlangt das Grundprinzip der MwSt-Neutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat. Darüber hinaus wies der Gerichtshof darauf hin, dass die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet wird, auch wenn ein steuerpflichtiger Umsatz fehlt.

Nach Ansicht des EuGH müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit ein Dokument als Rechnung im Sinne von Art. 203 der Richtlinie angesehen werden kann. Erstens muss die Mehrwertsteuer ausgewiesen sein. Zweitens müssen die Informationen enthalten sein, die der Fiskus benötigt, um festzustellen, ob die wesentlichen Voraussetzungen für das Recht des Kunden auf Vorsteuerabzug erfüllt sind. Die Frage, ob die zweite Bedingung erfüllt worden ist, sollte nach Ansicht des EuGH vom nationalen Gericht geprüft werden.

Zweifel am Urteil

Obwohl das Urteil einen besonderen Fall betrifft, in dem keine Rechnung ausgestellt worden war, besteht ein Risiko, dass die vom EuGH formulierten Thesen von den nationalen Steuerbehörden umfangreicher interpretiert werden. Darüber hinaus gibt es infolge des Urteils einige praktische Probleme, Verträge als Rechnungen zu betrachten.

Rechnung

Vor allem können die Steuerpflichtigen nicht sicher sein, ob aufgrund des Urteils eines Tages eines ihrer Handelsdokumente als Rechnung angesehen wird. Dies können nicht nur Verträge, sondern auch andere Handelsdokumente sein, die gewisse Elemente einer Rechnung enthalten (z.B. Auftrag, Lieferschein, CMR-Frachtbrief oder Pro-Forma-Rechnung). Die Liste dieser Dokumente ließe sich noch verlängern, da das Gericht feststellte, dass selbst wenn die Rechnung nicht alle erforderlichen Angaben (z. B. die Mehrwertsteuersätze) enthält, diese jedoch aus dem Inhalt des Vertrags entnommen werden können, der Vertrag als Rechnung betrachtet werden kann.

Ebenso könnte das Urteil dazu führen, dass Rechnungen, die ein wesentlicher Bestandteil des Steuersystems sind,  eine geringere Rolle spielen. Nach gängiger wirtschaftlicher Praxis sind Rechnungen Steuerdokumente, auf deren Grundlage eine der Transaktionsparteien die Umsatzsteuer abführt und die zweite sie abzieht. Folglich ist es im Allgemeinen für die Steuerpflichtigen offensichtlich, dass sie in ihren USt-Abrechnungen Rechnungen und nicht andere Dokumente abrechnen. Eine Änderung würde zu praktischen Problemen führen, z. B. die sonstigen Handelsdokumente in den USt-Registern einzutragen, in den USt-Meldungen abzurechnen oder bei Bedarf zu korrigieren.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs kann auch andere Risiken nach sich ziehen. Wird ein Vertrag als Rechnung angesehen, kann eine nachträglich erstellte Rechnung von Steuerorganen als Rechnung mit unberechtigt ausgewiesener Umsatzsteuer (in Polen „leere Rechnung“ genannt) betrachtet werden. Die Umsatzsteuer müsste also zweimal abgeführt werden – einmal aufgrund des Vertrages und zum zweiten Mal aufgrund der Rechnung. Dazu kommen eventuelle Säumniszuschläge und sogar strafrechtliche Haftung. Außerdem besteht aktuell die Gefahr, dass Käufer, die bisher (aus welchen Gründen auch immer) keine Rechnung für erworbene Leistungen erhielten, jetzt ihr Recht auf Vorsteuerabzug auf der Grundlage von sonstigen Handelsdokumenten geltend machen werden. In der Folge könnten Verkäufer, die diese Dokumente in ihren USt-Abrechnungen nicht ausweisen, von ihren Finanzämtern Aufforderungen wegen fehlender Umsätze erhalten.

In Anbetracht dessen wäre es unserer Meinung nach ratsam, dass sich das polnische Finanzministerium mit diesem Urteil befasst und die aufgetretenen Zweifel z.B. durch eine allgemeine steuerliche Aussage klärt, damit das Urteil von den Finanzämtern nicht umfangreicher interpretiert wird.

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