Eines der grundlegenden Strukturprinzipien der Mehrwertsteuer ist der Grundsatz der Neutralität. Auf ihrer Grundlage haben die Steuerpflichtigen das Recht, die Umsatzsteuer um die aus Einkaufsrechnungen resultierende Vorsteuer zu verringern, vorausgesetzt, dass die abgewickelten Einkäufe mit steuerbaren Geschäftstätigkeiten im Zusammenhang stehen. Damit das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht und von einem Steuerzahler ausgeübt werden kann, müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Gemäß der einheitlichen Rechtsprechung der polnischen Steuerbehörden kann die Vorsteuer auch aus Rechnungen zurückgefordert werden, die vor der Registrierung als aktiver Steuerpflichtiger eingegangen sind. Diesen Standpunkt bestätigt auch die individuelle Steuerauskunft 0114-KDIP1-3.4012.62.2022.2.KP vom 08.04.2022.
Bedingungen für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug und dessen Ausübung
Nach den polnischen USt-Vorschriften hat ein Steuerzahler das Recht, die Vorsteuer aus der Eingangsrechnung abzuziehen, wenn drei Voraussetzungen kumulativ efüllt sind:
- der Steuerzahler hat von seinem Kontrahenten eine Rechnung erhalten;
- die erworbenen Waren und Dienstleistungen müssen zur Ausübung der steuerpflichtigen Tätigkeiten verwendet werden;
- seitens des Verkäufers ist eine Steuerpflicht entstanden.
Grundsätzlich kann der Steuerpflichtige die Vorsteuer frühestens in der Abrechnung für den Zeitraum abziehen, in dem er die Rechnung erhalten hat. Wenn er den Vorsteuerabzug in diesem Zeitraum nicht getätigt hat, kann er diesen in den nächsten drei (im Fall von monatlichen Erklärungen) bzw. zwei (im Fall von vierteljährlichen Erklärungen) Abrechnungszeiträumen vornehmen.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die bloße Erfüllung der Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausreicht, um diesen in Anspruch zu nehmen. Zusätzlich muss eine formale Bedingung erfüllt sein, nämlich der Status eines aktiven Steuerzahlers.
Schilderung des Sachverhalts zur individuellen Steuerauskunft 0114-KDIP1-3.4012.62.2022.2.KP
Der Antragsteller beschloss im Jahr 2019, eine Wohnung zu kaufen, die für die kurzfristige Vermietung genutzt werden sollte. Im Zusammenhang mit diesem Einkauf verpflichtete er sich, bis zur Fertigstellung des Projekts durch den Bauträger, d.h. bis Ende 2021, Anzahlungen zu leisten. Für jeden Vorschuss wurde an den Antragsteller eine Rechnung ausgestellt.
Aufgrund von Auslegungszweifeln ließ er sich nicht für die Mehrwertsteuer registrieren und, da er keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, reichte er auch keine USt-Abrechnungen ein. Der Antragsteller beabsichtigt jedoch, sich für umsatzsteuerliche Zwecke anzumelden und die Erstattung der aus den beglichenen Anzahlungen resultierenden Vorsteuer zu beantragen. Deswegen wandte er sich an die Steuerbehörde mit der Anfrage, ob er in dieser Situation eine rückwirkende Registrierung vornehmen und die Vorsteuer für den Zeitraum vor der Anmeldung abziehen könne.
Entscheidung der Steuerbehörde
Der Direktor der Nationalen Finanzauskunft bestätigte in der Begründung seiner Entscheidung, dass der Vorsteuerabzug möglich ist, wenn die erworbenen Waren bzw. Dienstleitungen für die steuerbaren Geschäftstätigkeiten verwendet werden; um dieses Recht auszuüben, muss jedoch die formale Voraussetzung erfüllt sein, d.h. der Status eines aktiven Steuerzahlers. Die Steuerbehörde wies auch auf die anderen im polnischen USt-Gesetz genannten Bedingungen hin, deren Erfüllung zum Vorsteuerabzug berechtigt, nämlich die Entstehung der Steuerpflicht seitens des Verkäufers und den Erhalt der Rechnung durch den Käufer.
Nach Auffassung der Behörde macht der Gesetzgeber das Recht auf Vorsteuerabzug nicht vom Zusammenhang des Einkaufs mit aktuell ausgeübten steuerpflichtigen Tätigkeiten abhängig. Es ist ausreichend, dass die Umstände des Erwerbs von Waren bzw. Dienstleistungen unter Berücksichtigung der Art der vom Steuerzahler ausgeübten Geschäftstätigkeiten auf einen solchen Zusammenhang hindeuten.
Bei der Begründung seines Standpunkts verwies der Direktor auch auf die Rechtsprechung des EuGH. Laut Urteil in der Rechtssache C-400/98 ist das Recht auf Vorsteuerabzug nicht von einer vorherigen Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke abhängig. Dagegen hängt die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug gemäß den Urteilen C-268/83 und C-110/94 nicht von der formalen Anerkennung des Status des Steuerpflichtigen durch die Steuerbehörden ab. Der Steuerzahler erwirbt diesen automatisch zum Zeitpunkt der ersten mit der zukünftigen wirtschaftlichen Tätigkeit verbundenen Investition.
Unter Berücksichtigung der polnischen USt-Vorschriften, der Rechtsprechung des EuGH und des Sachverhalts stimmte die Steuerbehörde dem Antragsteller zu und stellte fest, dass das USt-Gesetz dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug aus vor der Registrierung getätigten Einkäufen nicht abspricht. Wenn der Steuerzahler die formale Bedingung erfüllt, d.h. das Registrierungsformular VAT-R einreicht und den Zeitraum, in dem er die erste Rechnung erhalten hat, als ersten Abrechnungszeitraum angibt, kann er die aus den bezahlten Rechnungen resultierende Vorsteuer abziehen.
Einheitlicher Standpunkt der polnischen Steuerbehörden bzgl. des Vorsteuerabzugs aus vor der Registrierung erhaltenen Rechnungen
Die Frage des Vorsteuerabzugs aus Rechnungen, die vor der Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke eingegangen sind, wurde bereits in unserem Blog angesprochen (siehe https://blog.taxbenefit.pl/pl/uncategorized/vorsteuerabzug-aus-rechnungen-die-vor-der-registrierung-des-unternehmens-eingegangen-sind-2/). Im Rahmen der Steuerauskunft 0114-KDIP1 3.4012.517.2020.1.KP vom 22.10.2020 hat sich die Steuerbehörde mit der Frage beschäftigt, ob ein bisher umsatzsteuerlich nicht registrierter Antragsteller zum Vorsteuerabzug aus Rechnungen berichtigt ist, die den Erwerb von Geschäftsraum dokumentieren, wenn er eine spätere Vermietung beabsichtigt. Die Steuerbehörde stimmte dem Antragsteller zu und erklärte, dass er befugt sei, die vor der Registrierung gezahlte Mehrwertsteuer zurückzuerhalten, wenn die erworbene Räumlichkeit zur Ausübung der steuerpflichtigen Tätigkeiten verwendet wird.
Einen ähnlichen Standpunkt vertritt der Direktor der Nationalen Finanzauskunft auch in der Steuerauskunft 0112-KDIL3.4012.216.2021.2.MBN vom 21.09.2021. Gegenstand der Analyse war in diesem Fall die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs aus fünf die Bauleistungen vom Zeitraum Mai – August 2019 dokumentierenden Rechnungen, welchen die Immobilieneigentümerin versehentlich nicht früher getätigt hatte. Da sie in Zukunft ihr Gebäude nur für die Ausübung mehrwertsteuerpflichtiger Tätigkeiten im Bereich der Verpflegungs- und Beherbergungsdienstleistungen zu verwenden beabsichtige, beschloss die Behörde, dass die Inhaberin das Recht habe, sich rückwirkend registrieren zu lassen und einen solchen Vorsteuerabzug vorzunehmen.
Bei der Analyse der oben aufgeführten Steuerauskünfte lassen sich mehrere Analogien feststellen. Sie beziehen sich alle auf ähnliche Sachverhalte, in denen die Antragsteller bei den Steuerbehörden nach der Möglichkeit des Vorsteuerabzugs aus Einkaufsrechnungen fragten, die vor der Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke erhalten bzw. bezahlt wurden. Die Steuerbehörden, die die Ausübung dieses Rechts zulassen, verweisen auf dieselben Bestimmungen des polnischen USt-Gesetzes und Urteile des EuGH und legen diese analog aus. In Anbetracht der Tatsache, dass diese individuellen Steuerauskünfte in drei aufeinanderfolgenden Jahren herausgegeben wurden, kann der Schluss gezogen werden, dass es sich in dieser Hinsicht um eine etablierte und einheitliche Rechtsprechung handelt.
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