Steuerzahler, die Waren oder Dienstleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat erwerben, haben die Möglichkeit, die Erstattung der gezahlten Vorsteuer zu beantragen. Um die Erstattung zu erhalten, müssen die Steuerpflichtigen eine Reihe von formalen Anforderungen erfüllen. Unter anderem sind sie verpflichtet, in ihrem Antrag bestimmte Informationen über die in einem anderen EU-Land getätigten Einkäufe vorzulegen. Nach dem jüngsten Urteil C-294/20 des EuGH vom 09.09.2021 riskieren Steuerzahler, die den zuständigen Behörden die erforderlichen Angaben innerhalb der bestimmten Fristen nicht übermitteln, den Verlust ihres Anspruchs auf Mehrwertsteuererstattung.

Die in einem anderen EU-Land gezahlte Mehrwertsteuer kann zurückgefordert werden

Mehrwertsteuer

Detaillierte Regeln für die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Land der Erstattung ansässig sind, legt die Richtlinie 2008/9/WE des Rates vom 12. Februar 2008 fest. Sie bildet eine Grundlage für die nationalen Erstattungsvorschriften der einzelnen EU-Länder, die sich zu einem gewissen Grad voneinander unterscheiden können. In der Richtlinie wird unter anderem vorgeschrieben, welche Voraussetzungen ein Steuerpflichtiger erfüllen muss, um eine Erstattung zu erhalten, und für welchen Einkauf von Waren und Dienstleistungen er eine Erstattung beantragen kann; sie definiert außerdem die Frist für die Antragstellung sowie den Mindestbetrag und den Zeitraum der Erstattung. Darüber hinaus wird in dem Dokument der Umfang der vom Antragsteller zu erfüllenden Informationspflichten festgelegt. Die Richtlinie lässt in dieser Hinsicht einen gewissen Spielraum, da einige Bestimmungen obligatorisch sind, während es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, den Steuerpflichtigen weitergehende Informationspflichten aufzuerlegen.

Derzeitige Anwendbarkeit des Urteils C-294/20

In dem in diesem Artikel besprochenen Urteil des EuGH gelten für den vorliegenden Sachverhalt die Vorschriften der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 und der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979, die entsprechend am 1. Januar 2007 durch die Richtlinie 2006/112/WE bzw. am 1. Januar 2010 durch die Richtlinie 2008/9/WE ersetzt wurden. Zweck der Richtlinie 2006/112/WE war die Neufassung der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie, um das geltende EU-Mehrwertsteuerrecht zu präzisieren. Die Richtlinie 2008/9/WE führte wiederum im Vergleich zur  Achten Richtlinie u.a. die Verpflichtung ein, Erstattungsanträge elektronisch einzureichen, außerdem Änderungen der Frist für die Einreichung und Bearbeitung des Antrags sowie die Abschaffung der Verpflichtung zur Vorlage von Originalrechnungen. Aufgrund des ähnlichen Wortlauts der geltenden Rechtsakte findet das Urteil C-294/20 auch derzeit Anwendung.

Schilderung des Sachverhalts

In den Jahren 2006 und 2007 beantragte das deutsche Leasingunternehmen GE Auto Service Leasing GmbH (nachfolgend „Auto Service“ genannt) bei der spanischen Steuerbehörde die Erstattung der gezahlten Mehrwertsteuer für die Steuerjahre 2005 und 2006 in Höhe von über 400 Tausend EUR. Um die Richtigkeit des Antrags zu verifizieren, forderte die spanische Steuerbehörde die deutsche Gesellschaft zweimal auf, die entsprechenden Unterlagen und Informationen bezüglich der in Spanien abgewickelten Geschäfte vorzulegen. Der Antragsteller kam den Informationspflichten nach der ersten Aufforderung nicht nach, was zur Ablehnung des Antrags im Jahr 2009 und zum Einspruch von Auto Service gegen diese Entscheidung führte (das Unternehmen fügte dem Einspruch einige Rechnungen bei, auf deren Grundlage es die Mehrwertsteuererstattung beantragte). Auto Service übermittelte jedoch auch vor der Entscheidung über den Einspruch keine der neu angeforderten Unterlagen. Da die spanische Steuerverwaltung nicht über alle erforderlichen Unterlagen verfügte, wies sie Anfang 2010 den Einspruch zurück.

Auto Service focht dieses Urteil vor der Zentralen Rechtsbehörde in Verwaltungssachen an und legte gleichzeitig  Rechnungen für die erbrachten Dienstleistungen, Finanzierungs- und Leasingverträge  sowie mehrere periodische Mehrwertsteuererklärungen vor. Auch dieser Antrag des deutschen Unternehmens wurde mit der Begründung abgewiesen, dass die entsprechenden Beweise dem zuständigen Verwaltungsorgan hätten zugestellt werden müssen. Auto Service legte auch gegen diese Entscheidung Berufung ein, diesmal beim Nationalen Gerichtshof. Wie im Falle der Vorinstanzen wurde ein für sie negatives Urteil gefällt.

Schließlich beschloss das Unternehmen, Kassationsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof einzulegen. In dem Urteil aus dem Jahr 2018 hob die höchste Instanz das Urteil des Nationalen Gerichtshof auf und ordnete an, die Rechtssache an dieses Gericht zurückzuverweisen, damit es anhand der vorliegenden Nachweise über den Mehrwertsteuererstattungsantrag des Unternehmens entscheidet. Der Oberste Gerichtshof begründete seine Entscheidung mit der Rechtsprechung des EuGH, die im Bereich der Mehrwertsteuer auf dem Grundsatz  der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit basiert und den materiell-rechtlichen Vorschriften über den Vorsteuerabzug Vorrang vor den Formvorschriften eingeräumt hat.

Nach Ansicht des Nationalen Gerichtshof würde jedoch die Übernahme der Argumentation des Obersten Gerichtshofs sehr wahrscheinlich gegen Art. 3 und Art. 7 der Achten Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen. Außerdem würde durch die Möglichkeit, das Recht auf Vorsteuerabzug ohne zeitliche Beschränkung auszuüben, der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt.

Der Nationale Gerichtshof setzte das Verfahren aus und wandte sich mit der Vorlagefrage an den EuGH.

Die Entscheidung des EuGH

In Anbetracht des Sachverhalts betrifft der Ausgangsrechtsstreit nach Meinung des Gerichtshofs nicht den Verstoß gegen formale Anforderungen, die den Nachweis über die Erfüllung der materiellen Anforderungen, die den Anspruch auf Mehrwertsteuererstattung begründen, verhindern. Vielmehr geht es um  den Zeitpunkt, zu dem dieser Nachweis erbracht werden kann. Der EuGH betont auch, dass er hierzu bereits entschieden hat, dass nämlich die Bestimmungen der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer Steuerzahlern verweigert werden kann, die über unvollständige Rechnungen verfügen, selbst wenn sie durch die Vorlage von Informationen zum Beweis des tatsächlichen Vorliegens der Natur und des Betrags der berechneten Umsätze nach der Antragsablehnung von der Steuerbehörde ergänzt werden.

Analog sei davon auszugehen, dass auch die Bestimmungen der Achten Mehrwertsteuerrichtlinie den nationalen Vorschriften nicht widersprechen, die den Anspruch auf Mehrwertsteuererstattung versagen, wenn ein Steuerzahler ohne hinreichende Begründung und trotz an ihn gerichteten Auskunftsverlangens die Dokumente nicht vorlegt, die den Nachweis ermöglichen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Erstattung erfüllt sind, bevor die Steuerbehörde ihre Entscheidung bekanntgibt.

Der Gerichtshof weist allerdings darauf hin, dass solche nationalen Vorschriften mit folgenden Grundsätzen des Unionrechts im Einklang stehen müssen:

  • Äquivalenzgrundsatz – die Vorschriften in dieser Frage dürfen nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige interne Sachverhalte regeln,
  • Effektivitätsgrundsatz – die Vorschriften in dieser Frage dürfen nicht die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch verhindern oder sie übermäßig erschweren,
  • Grundsatz der Rechtssicherheit – die Steuerzahler dürfen nicht auf unbestimmte Zeit der Anfechtung ihrer Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung ausgesetzt sein.

In dem Urteil wurde festgestellt, dass die Bestimmungen der Achten Mehrwertsteuerrichtlinie und die Grundsätze des Unionrechts es den einzelnen Mitgliedstaaten nicht verbieten, solche Bestimmungen einzuführen, nach denen einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer abgelehnt werden kann, wenn der Steuerpflichtige der zuständigen Steuerbehörde nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist und auf deren Aufforderung alle erforderlichen Unterlagen und Informationen vorgelegt hat. Die Ablehnung des Antrags kann auch unabhängig davon erfolgen, dass der Steuerpflichtige alle Unterlagen und Informationen im Überprüfungsverfahren (II. Instanz) oder im gerichtlichen Verfahren über die Klage gegen die einen solchen Erstattungsanspruch versagende Entscheidung übermittelt hat.

Fazit

Nach Rechtsprechung des EuGH ist das Recht auf Vorsteuerabzug und damit auch der Erstattungsanspruch das Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems der Europäischen Union und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Verstößt ein Steuerpflichtiger jedoch gegen die Formvorschriften in dem Ausmaß, dass die Erfüllung der materiellen Anforderungen unmöglich nachzuweisen ist, kann er das Recht auf Erstattung verlieren. Als Beispiel einer solchen Situation dient die Entscheidung des EuGH im Urteil C-294/20. Sie stellt dar, dass die Steuerzahler, die die Forderungen der Steuerverwaltung ignorieren, mit negativen Konsequenzen rechnen müssen und die rechtzeitige Vorlage der erforderlichen Unterlagen und Informationen notwendig ist, um eine Mehrwertsteuererstattung zu erhalten.

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