Ist das Umsatzsteuersystem für jedes Unternehmen wirklich neutral?
Gemäß den allgemeinen Vorschriften, die die Umsatzsteuer betreffen, sollten Transaktionen mit Rechnungen dokumentiert werden. Aufgrund einer Eingangsrechnung kann ein Unternehmen die bezahlte Vorsteuer abziehen, sodass ein Grundprinzip der Umsatzsteuerneutralität erfüllt ist. Dieser Vorgang scheint offensichtlich zu sein; was aber soll passieren, wenn ein Unternehmen für einen bestimmten Zeitraum keine Rechnungen ausgestellt hat, in der Annahme, nicht umsatzsteuerpflichtig zu sein, es aber unerwartet rückwirkend beim Finanzamt registriert wurde? Ist es möglich, dass ein Unternehmen die Umsatzsteuer bezahlen muss und gleichzeitig vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen wird? Einen solchen Fall hat kürzlich der Europäische Gerichtshof beurteilt.
Schilderung des Sachverhaltes
Lucreţiu Hadrian Vădan, ein rumänischer Staatsbürger, verwirklichte in Rumänien ein Bauprojekt, das in der Errichtung einer Wohnanlage mit 16 Einfamilie‑ und Mehrparteienhäusern mit insgesamt 90 Wohneinheiten bestand. Im Zeitraum von 2006 bis 2009 verkaufte er diese Häuser sowie andere Baugrundstücke für mehr als 4 Mio. EUR. Da er sich nicht als Umsatzsteuerpflichtiger registriert und keine Umsatzsteuermeldungen abgegeben hatte, wurde er im Jahr 2011 bei der rumänischen Finanzverwaltung rückwirkend ab August 2006 registriert, also vom Zeitpunkt der Überschreitung der gesetzlichen Schwelle für die Umsatzsteuerbefreiung. Ferner wurde bei der Steuerbehörde ein Betrag i.H.v. fast 1,3 Mio. EUR nachgefordert, bestehend aus der geschuldeten Umsatzsteuer, Verspätungszinsen und Verspätungszuschlägen.
Entscheidung des Berufungsgerichts
L. Vădan focht die Nachforderung der Verwaltungsbehörde an und klagte vor dem rumänischen Berufungsgericht mit der Begründung, dass er sich weder als umsatzsteuerpflichtig habe registrieren lassen noch irgendwelche Aufzeichnungen habe führen müssen, da er die Umsatzsteuer bei den von ihm getätigten Erwerben gezahlt und seinen Erwerbern gegenüber niemals Umsatzsteuer berechnet oder eingezogen habe. Diese Forderung wurde vom Gericht abgelehnt. Um den Verlust zu minimieren, beantragte der Unternehmer die Rückerstattung der Vorsteuer. Da in der Zeit von 2006 bis 2008 solche Bauunternehmen zur Ausstellung der Rechnungen in Rumänien nicht verpflichtet waren, nahm Herr Vădan als Beleg nur die Kassenzettel, die aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Druckerschwärze inzwischen unleserlich geworden waren.
In Bezug auf den obigen Sachverhalt richtete das rumänische Gericht an den Europäischen Gerichtshof die Frage, ob der Steuerpflichtige in diesem Fall zum Vorsteuerabzug berechtigt sei und inwieweit das Recht auf Vorsteuerabzug im Hinblick auf den Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer bestehe. Die Berechnung der Vorsteuer würde aufgrund einer mittelbaren Schätzung von einem Gutachter vorgenommen und der Betrag der abzugsfähigen Vorsteuer auf der Grundlage des Umfangs der Arbeiten und der Arbeitsleistung ermittelt.
Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Der Europäische Gerichtshof unterstrich in seinem Urteil Nr. C‑664/16 vom 21. November 2018, dass „das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Umsatzsteuersystems [ist], das grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann“. Gemäß der Umsatzsteuerrichtlinie muss das Unternehmen, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu besitzen, ein Steuerpflichtiger im Sinne der Richtlinie sein und die Waren oder Dienstleistungen vom Steuerpflichtigen für Zwecke seiner steuerbaren Umsätze verwendet werden. Gleichwohl muss ein Steuerpflichtiger, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, nachweisen, dass er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
Der Steuerpflichtige muss also durch objektive Nachweise belegen, dass ihm andere Steuerpflichtige auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände oder Dienstleistungen geliefert bzw. erbracht haben, die seinen der Umsatzsteuer unterliegenden Umsätzen dienten und für die er die Umsatzsteuer tatsächlich entrichtet hat. Eine Schätzung in einem von einem nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten kann diese Nachweise zwar gegebenenfalls ergänzen oder glaubwürdiger erscheinen lassen, nicht aber ersetzen. Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Herr Vădan, da er keine Rechnungen vorlegen konnte, andere Dokumente vorlegte, die den Angaben des Gerichts zufolge jedoch unleserlich waren und nicht genügten, um zu bestimmen, ob und inwieweit ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht.
Fazit
Aus dem oben erwähnten Urteil folgt, dass infolge der fehlenden Rechnungen das Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausgeschlossen werden kann, wenn andere Beweise vorhanden sind. Eine Rechnung ist in jedem Fall als eindeutiger Nachweis zu betrachten.
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